Die Mutter
Ich schlief zwischen zwei Gärten
und träumte bunte Träume.
Ich versteckte mich zwischen zwei Sternen
und pflückte einen Strauß von Geheimnissen der Nacht
für meine Gedanken.
Ich schlenderte zwischen zwei Bächen,
und das Rauschen des Wassers und die Wellen
wurden meine Freunde.
Ich gesellte mich zu zwei Liebenden,
und meine grauen Haare
wurden allmählich wieder schwarz.
Als ich bei zwei Müttern saß,
begegnete mir
die größte Liebe dieser Erde.
Geduld
Oh, meine traurige Frau!
Laß deine Geduld
wie deine nußbraunen Haare wachsen…
Nimm auch die Armut
in dein Herz und deinen Schoß auf
wie unsere vier Kinder…
Ich weiß, wie dunkel die Nacht ist.
Öffne der Verzweiflung die Türe nicht!
Sprich nie mit Tränen!
Möge der Schmerz ein harter Fels sein,
ihr aber jene fünf schönen Blumen,
die auf seinem Gipfel blühen.
Brennen
Auf den Stufen der Angst
ist die Dunkelheit wie ein Dieb
in meine Seele hinabgestiegen.
Als sie bei meinem Herzen ankam,
wollte sie ihre Hand danach ausstrecken.
Plötzlich
habe ich deine Liebe angezündet
und in ihr die Dunkelheit
und die Angst verbrannt.
Trennung
Wenn sie aus meinen Gedichten
die Blumen wegnehmen,
stirbt eine meiner vier Jahreszeiten.
Wenn sie meine Liebste
daraus wegnehmen,
sterben zwei meiner Jahreszeiten.
Wenn sie das Brot
daraus wegnehmen,
sterben drei meiner Jahreszeiten.
Wenn sie die Freiheit
daraus wegnehmen,
stirbt mein ganzes Jahr und ich selbst.
Blick
Als du hereinkamst,
wurden meine Blicke
zu einem Schmetterling,
der im Saal umhertanzte,
bis er sich auf der Blume,
die dein Haar zierte,
niederließ.
Aber in jenem Augenblick,
als du die Blume herausnahmst
und sie einem anderen gabst,
wurde der Schmetterling meiner Blicke
in deinen Fingern
entstäubt,
ohne daß du es wußtest.
Rogen
Der See, in dem der Schriftsteller
ertränkt wurde,
blickte hinab auf seinen Grund.
Als er genauer hinsah,
entdeckte er auf seinem Bett, daß
dort, wo die Schreibfeder schlief,
ein großer Fisch
seine Rogen abgelaicht hatte
für Tausende von Geschichten.
Die Haube
Hast du bemerkt:
Wenn eine Schar Wiedehopfe
am Sarg einer Blume oder eines Zweiges
vorbeifliegt,
daß sie innehalten
und aus Respekt vor der Trauer ihre Hauben ziehen,
bis der Sarg vorüber ist?
Oder hast du bemerkt,
wie eine Eichel
um einen getöteten Vogel weint
und ihr Häubchen abnimmt,
um damit ihre Tränen zu trocknen?
Aber jedes Mal, wenn mich in meinem Zimmer
die Nachricht von einer getöteten Eiche
oder einem erwürgten Vogel erreicht,
setzt mein Füller seine Kappe auf
und weint.
Schmuck
In den alten Zeiten erzählte man:
Ein Gedicht belud sich
mit dem Schmuck einer Kaiserin.
Die Tage vergingen.
Als die Kaiserin starb,
wurde auf Befehl des Kaisers
das Gedicht
zusammen mit der Kaiserin und ihrem Schmuck
begraben.
Sturmflut
Die Flut sagte zum Fischer:
Für das Toben meiner Wellen
gibt es viele Gründe.
Der wichtigste davon ist,
daß ich für die Freiheit der Fische
und gegen das Netz bin.
Verbeugung
Eine Mohnblume
verneigte sich vor einer Dornenblume
und küßte ihr die Hände.
Als sie sich danach erhob,
war ihr Rot zu ihren Füßen vergossen;
und bis zum Tode quälte sie sich
wegen ihrer Blässe.
Die Heuschrecke
Eine Heuschrecke kletterte
auf eine Rauchwolke
und schrieb in das Dunkel der Nacht:
Von jetzt an ist das Wandern des Regens
verboten.
Die Wolken kletterten auf die Berggipfel
und schrieben ihre Antwort
mit Blitz und Wolkenbruch
in den Morgenhimmel.
Sinnspruch
Es gibt viele Dinge,
die rosten, vergessen werden
und schließlich sterben
so wie Krone, Zepter und Thron eines Königs.
Aber es gibt auch viele andere Dinge
auf dieser Welt,
die nicht zerfallen, nicht vergessen werden
und nie sterben
so wie der Hut, der Stock und die Schuhe
Charlie Chaplins.
Das Lamm
Nach dem Knall
und nachdem das Flugzeug verschwunden war,
suchte ein Lamm mit dem Maul
vergeblich nach den Zitzen seiner Mutter.
Es konnte weder seine Herde
noch den Weg zum Wasser wiederfinden.
Der Vergleich
Die Geschichte kam
und verglich ihre Größe
mit der Größe deines Leides.
Dein Leid war ein paar Fingerbreit größer.
Als das Meer seine Tiefe mit der Tiefe
deiner Wunden vergleichen wollte,
schrie es aus Angst,
darin zu ertrinken.
Die Liebe
Ich habe mein Ohr an das Herz
der Erde gelegt.
Sie hat mir von der Liebe zwischen sich
und dem Regen erzählt.
Ich habe mein Ohr an das Herz
des Wassers gelegt.
Es hat mir von der Liebe zwischen sich
und seinen Quellen erzählt.
Ich habe mein Ohr an das Herz
des Baumes gelegt.
Er hat mir von der Liebe zwischen sich
und seinen Blättern erzählt.
Als ich mein Ohr an das Herz
der Liebe selbst gelegt habe,
hat sie mir von der Freiheit erzählt.
Gemeinsam
Eines Abends saßen ein Blinder,
ein Tauber und ein Stummer
eine Zeitlang auf einer Parkbank beieinander.
Sie saßen aufrecht und waren heiter.
Der Blinde sah mit den Augen des Tauben.
Der Taube hörte mit den Ohren des Blinden.
Der Stumme verstand beide an der Bewegung ihrer Lippen.
Alle drei gemeinsam rochen sie den Duft der Blumen.
Die Liebende
Es war das erste Mal, daß eine Zuckerrohrpflanze
gegen ihr Feld aufbegehrte.
Diese schlanke und blasse Liebende
hatte ihr Herz dem Wind geschenkt.
Das Feld willigte nicht in die Heirat ein.
Die von Liebe Verzehrte sagte:
»Er bedeutet mir mehr als ihr alle,
hier ist mein Herz.«
Das empörte Feld rief den Specht
als Strafe für die Liebende,
deren Augen bereits feucht von Tau waren.
Der Specht hämmerte einige Löcher
in Herz und Körper der Pflanze.
Von diesem Tag an war die Liebende
eine Flöte,
und die Hand des Windes
brachte ihre Wunden zum Sprechen,
und sie singt bis heute für die Welt.
Roman
Oh, schönes Mädchen,
den Roman, den ich dir gab,
brachtest du nach dem Lesen zurück.
Als du ihn in mein kleines Regal stelltest,
versammelten sich alle Kurzgeschichten um ihn.
Er erzählte von seinem mehrtägigen
Zwiegespräch mit deinen Augen,
und er sagte ihnen:
Die Schöne mag nur lange Geschichten wie mich lesen.
Kurzgeschichten schaut sie nicht einmal an.
Nach einer Weile sah ich,
daß alle Kurzgeschichten
deinen Augen zuliebe
zu Romanen geworden waren.
Die Wurzeln
Auch wenn die Sterne, die Wolken,
der Wind und die Sonne
die Mörder nicht sehen,
wenn die Vögel am Himmel getötet werden
und der Horizont sich taub stellt
und die Berge und die Wasser sie vergessen,
so sollte es zumindest einen Baum geben,
der sie sieht und ihre Namen
in seine Wurzeln schreibt.
Im Wald
Es wurde dunkel.
Ein Löwe in seiner Höhle dachte darüber nach,
daß er am folgenden Tag
seinen Nachbarn, den Tiger,
angreifen sollte.
Der Tiger dachte darüber nach,
daß er am folgenden Tag
dem Fuchs
das Fell abziehen sollte.
Der Fuchs dachte darüber nach,
wie er den Zaun am Rande des Baches erreichen
und die Jungen der Tauben fressen könnte.
Die Taube jedoch dachte darüber nach,
wie sie die Jäger, die Vögel
und die Tiere des Waldes versöhnen könnte.
Wie ihr das wohl gelingt?
Der Schlüssel
In einem fernen Land
brachte ein schreckliches Ereignis
einen verlorenen Schlüssel zum Weinen.
Man hatte nicht nach ihm gesucht,
sondern mit Gewalt das Stadttor zerschlagen.
Das Neue Jahr
Die Wiese, die kein Kuß des Regens
im letzten Jahr zum Sprießen gebracht hat,
mache ich dieses Jahr grün,
sagte die Wolke.
Mit der schönen Blume, die ich mir
letztes Jahr nicht ins Haar gesteckt habe,
werde ich mich dieses Jahr schmücken,
sagte der Garten.
Den hohen Baum, mit dem ich
letztes Jahr nicht getanzt habe,
fordere ich dieses Jahr zum Tanz,
sagte die Brise.
Die Neujahrskrone, die ich
letztes Jahr aufgesetzt habe,
wird kleiner erscheinen als die Krone dieses Jahres,
sagte der Berggipfel.
Die Bäche, mit denen ich
letztes Jahr getändelt habe,
werde ich dieses Jahr um ihre Hand bitten,
sagte der See.
Der Horizont, in den ich
letztes Jahr nicht geflogen bin,
wird dieses Jahr Ziel meiner Reise sein,
sagte der Vogel.
Die schwarzäugigen Buchstaben, die ich
letztes Jahr noch nicht kannte,
werde ich mir dieses Jahr als Armreif über die Hände streifen,
sagte ein Mädchen.
Den Wirbelsturm, der mich
letztes Jahr zurückwarf,
werde ich dieses Jahr durchbrechen,
sagte das Pferd.
Aus den Kerzen meiner zwölf Finger
strahlt dieses Jahr mehr Hoffnung
als letztes Jahr,
sagte der Leuchter auf dem Tisch.
Das Weizenkorn, das ich
letztes Jahr nicht bis zu meinem Bau schaffen konnte,
werde ich dieses Jahr einbringen,
sagte die Ameise.
Das Gedicht, scheu wie ein Reh,
das ich letztes Jahr nicht zähmen
und meinen Augen vertraut machen konnte,
werde ich dieses Jahr zähmen,
in das Wolkenbett meines Gedichtbandes legen
und in meinen Armen schlafen lassen,
sagte zuletzt ich.
Der Mond und das Meer
Früher… Früher
da gab es nicht diesen Mond,
sondern einen anderen, schöneren,
sein Gesicht war viel strahlender.
Das Wasser war wie besessen von ihm,
es begehrte ihn.
Jede Nacht ging es an der Küste auf und ab,
wartend…
Aber der Mond schenkte ihm keine Beachtung.
Das Meer wollte ihn mit einer Liste fangen.
Auch die Wellen, selbst wenn sie sich erhoben,
konnten seine Wangen nicht erreichen.
Der Mond gab sich unnahbar,
spielte mit dem Meer Verstecken
und verschwand hinter den Wolken.
Eines Tages verreiste der Mond für ein Weilchen
in die Wüste
und blieb ein paar Nächte fort.
Als er zurückkam, war sein Gesicht staubig,
wie auch seine Haare und sein Silberkleid.
Als er zurückkehrte, lag das Wasser im Schlaf.
Der Mond beschloß sich zu waschen,
legte eilends seine Kleider ab
und schritt auf das Wasser zu.
Er war verwirrt.
Als er den Fuß auf einen glatten Stein setzte,
platschte es. Der Mond rutschte…
Das Meer erwachte wie ein Verrückter
und suchte nach dem Mond
oben, unten…
und suchte mit der Hand in der Tiefe
bis zum Grund.
Auf und ab,
doch es war kein Mond da.
In dieser Nacht wurden
Flut und Ebbe geboren.
Der Waggon
Ich weiß… du und ich,
wie weit wir auch voranschreiten,
wir werden uns niemals treffen,
denn wir sind wie ein Paar Schienen.
Wenn wir uns einander zuwenden,
werden die Waggons der Herzen entgleisen.
Dann wirst du erkennen,
wieviele Liebesbriefe, Flacons mit Parfüm
und Stelldicheins
und wieviele Küsse
voller Regen
für uns beide
sterben werden,
wenn sich ein so turbulenter Waggon
überschlägt.
Vergessen
Du hast sie auf dem Tisch vergessen.
Ganz leise, als ob ich meine Hände
nach zwei schlafenden weißen Tauben ausstreckte,
hob ich sie auf.
Draußen verfolgte der Wind die Schneeflocken
und ließ die schmalen Gassen vor Kälte zittern.
Nur ich alleine
hüllte mich in meine warmen Phantasien
und machte mich auf den Weg.
Oh, Mädchen!
Bis zu meinem Zimmer
waren deine Finger in meiner Hand;
bis ich einschlief,
umarmten mich deine Hände.
Oh, Mädchen!
Auch wenn meine zehn Finger
einer nach dem anderen abfrieren,
werde ich die Nacht der Handschuhe
nie vergessen.
»Wenn die Finger abfrieren«: Redewendung für »Wenn das Schlimmste passiert«
Deine Liebe
Deine Liebe gleicht dem Wind –
wenn ich brennen möchte,
kommt sie und löscht mich.
Deine Liebe gleicht dem Wind –
wenn ich glühe,
kommt sie und entfacht mich.
Ergebnis
Das Gefängnis,
in dem der Mond getötet wurde,
wurde von den Sonnenstrahlen umzingelt.
Der Fluß,
der das Rinnsal verschluckte,
wurde selbst vom Meer verschlungen.
Hoffnung
Wenn meine Liebe zu dir Regen wäre,
so stünde ich bereits darin.
Wenn die Liebe zu dir Feuer wäre,
so hockte ich bereits darin.
Ah, du mein geliebtes Kurdistan!
Mein Gedicht sagt:
»Solange es Regen und Feuer gibt,
werde ich auch leben.«
Die Last
Für mich gleicht
der Kopf eines Nagels
dem eines Gedichtes.
Beide dringen mit scharfer Spitze
in die Tiefe.
Der eine durch die Wucht des Hammers
und das andere durch die Last
des Schmerzes.
Gast
Als der Regen
in meinem Zimmer
zu Gast war und fortging,
hinterließ er mir eine Blume.
Auch die Sonne
kam mich in meinem Zimmer besuchen.
Als sie fortging,
hinterließ sie mir einen kleinen Spiegel.
Der Baum war
in meinem Zimmer zu Besuch.
Als er fortging,
hinterließ er mir einen Kamm.
Aber als du, schönes Mädchen,
Gast meines Zimmers warst
und fortgingst,
hast du die Blume, den Spiegel und den Kamm
mitgenommen,
aber welch ein Gedicht hinterlassen.
Schiff
Mein Herz kommt mir vor wie ein Schiff
mit durchlöchertem Boden.
Immer wieder drückt Wasser herein,
und ich schöpfe es aus.
Bis ich eine Schüssel alten Kummers
ausgeschöpft habe,
ist sie schon mit neuem Kummer gefüllt.
Doch weder sinkt dieses taumelnde Schiff,
noch geht es im Wirbelsturm dieser Nacht
vor Anker.
Standpunkt
Der Schatten eines Maulbeerbaumes zog sich zurück,
als er erfuhr,
daß der Wanderer,
der unter ihm ausruhen wollte,
drüben im Tal
ein paar junge Bäume gefällt hatte.
Der Mond löschte sein Licht,
als er erfuhr,
daß man in seinem Schein das Netz knüpfte,
um am kommenden Tag
die ersten Strahlen der Morgendämmerung
zu fangen.
Ein Schlüssel verhakte sich im Schlüsselloch,
als er spürte,
daß man eine Laterne herausholen wollte,
um sie zu erwürgen.
Ein Weg führte die Soldaten
einen nach dem anderen in die Irre,
als er erfuhr,
daß sie auf dem Weg waren,
einen Garten gefangen zu nehmen.
Auch zerriß sich ein Brief
in seinem Umschlag,
als er erfuhr,
daß er den Befehl trug:
»Das Gedicht für das geliebte Mahabad
soll hingerichtet werden!«
Mahabad: Kurdische Stadt im Iran, in der im Jahre 1945 die erste kurdische Republik entstand.
Pappel
Eine Pappel fragte:
Warum hat diese Trauerweide
ihr Haupt in den Schoß
des Teiches gelegt
und erhebt es nicht wieder?
Die Welle antwortete:
Sie stand stets aufrecht.
Eine Lerche kam immer,
ließ sich auf ihr nieder
und flüsterte ihr zu,
was auf der anderen Seite des Teiches geschah.
Eines Abends hatte die Lerche
Fröhliches zu berichten;
als sie landen wollte,
kam jedoch ein Adler und griff sie an.
Sie stürzte hinab,
und die Trauerweide beugte sich zu ihr herunter,
um sie aus dem Teich zu retten.
Ihr Arm war zu kurz,
die Lerche versank.
Seitdem liegt ihr Haupt im Schoß des Teiches
und sucht nach dem Vogel.
Macht
Durch das engste Nadelöhr,
auch im Dunkeln,
kann ich den Faden eines Gedichtes ziehen.
Die Träume,
auch die glatten,
kann ich mit der nackten Hand des Satzes
wie diesen Stift fangen.
Den größten Wal des Ozeans
kann ich in einem Becher voll Wörter
unterbringen.
Aber was nie in meinem Herzen
und in meinen Gedichten
Platz finden wird,
ist die Lüge,
groß oder
klein.
Nest
Seit ein paar Tagen hat
ein Paar Turteltauben
auf dem Fenstersims
meines Zimmers
ein Nest gebaut.
Sie gurren zusammen.
Sie picken an die Scheibe,
als möchten sie mit uns sprechen.
Ich sehe sie:
Ihre Augen wie Mandeln
blicken in meine traurigen Augen.
Sie sind glücklich
mit dem neuen Zuhause,
geschützt vor dem brausenden Wind.
Kein Durst, kein Hunger,
sie schmiegen sich aneinander,
und vor Freude schlagen sie
mit den Flügeln.
Ah, ihr Turteltauben!
Ich weiß nicht,
woher ihr gekommen seid,
welch langen Weg ihr hinter euch habt.
Wandernde in der Fremde,
nachdem euer Nest zerstört wurde,
was habt ihr gesehen?
Ich weiß es nicht,
aber ich bedaure euch beide;
dieses Glück währt nicht lange.
Seht ihr nicht mein Gesicht
wie eine versiegte Quelle,
Traurigkeit bedeckt es wie mit Wolken.
Seht ihr nicht mein Herz,
wie es zusammengeschnürt ist
und sein Auge nicht trocknet?
Ah, ihr beiden Turteltauben:
Schlagt nicht mit den Flügeln…
gurrt nicht…
Morgen kommen sie…
Morgen kommen die Tyrannen
und werden diesen Stadtteil,
mein und euer Zuhause, zerstören.
Weinen
Warum weint dieser Wald?
Vielleicht ist einer seiner Sprößlinge gestorben.
Vielleicht hat die Flut der gestrigen Nacht
einen seiner hübschen Jünglinge entführt.
Vielleicht hat er vom Tode
seines geliebten Vogelschwarmes gehört.
Nein! Er weiß:
Von morgen an wird er einsam zurückbleiben,
da der Tyrann das Lieblingsdorf
nach tausend Jahren vom Gipfel
in den Süden verlegt.
»Süden«: In die Wüste im Süden Iraks
Erde
Ich griff mit der Hand
nach einem Zweig.
Schmerzerfüllt zuckte der Ast.
Als ich mit der Hand nach dem Ast griff,
begann der Baumstamm
zu schreien.
Als ich den Baumstamm umarmte,
bebte die Erde unter meinen Füßen
und stöhnten die Steine.
Dieses Mal, als ich mich herabbeugte
und eine Handvoll Erde aufhob,
schrie das ganze Kurdistan auf.
Lid
Als der Mond aufging,
schenkte er
den ersten Strauß seiner Strahlen
dem hohen Gipfel.
Daneben
blickte ihn eine Quelle fordernd an
und verlangte von ihm einen Kuß.
Aus dem Fenster seines Zimmers
flehte ihn der Brief eines wachenden Liebenden an
zu bleiben.
Als der Mond plötzlich unterging,
suchten alle nach ihm.
Sie sahen,
wie der Mond
in einem Gedicht schlief
und den Kummer der Quelle,
des Briefes und des Gipfels
unter seinen Augenlidern verwahrte.
Schnee
Ich war ein Kind,
meine erste Liebe zu dir
wie eine kleine Schneeflocke,
so groß wie ein Ball.
Die Zeit verging.
Ich merke:
So wie das Alter dem Gefälle nachzieht,
rollt auch diese Schneeflocke talwärts
und wächst.
Es wird ein Tag kommen,
oh, mein trauriges weißes Land!,
da dieses kleine Herz
die Last des Schneeberges
nicht mehr tragen kann
und es an dieser Liebe stirbt.
Überleben
Ich ging ans Meer,
es sagte mir:
»Wenn es nach der Angel und dem Netz ginge,
wären schon lange
nicht nur die Fische meiner blauen Seele,
sondern auch ich selbst
zugrunde gegangen.«
Ich ging in den Wald,
er sagte mir:
»Wenn es nach der Träumen der Axt ginge,
würde kein einziger Zweig
in meinem Körper grünen.«
Oh, ihr meine Freunde,
das Meer und der Wald,
solange die Fische deiner blauen Seele bleiben
und deine grünen Zweige wachsen,
werden die Fische der Augen
und der Wald meines Volkes überleben.
Tunnel
Unter der Oberfläche dieser erschöpften
und verwundeten Seele
ziehen die Stunden der Fremde,
aneinander gekoppelt,
wie Waggons eines Zuges,
Tag für Tag pendeln sie hin und her.
An der Station des Wartens,
an der Station des Abschieds
öffnen und schließen sich
rastlose Türen
wieder und wieder.
Für jeden Schmerz, der aussteigt,
steigen hundert andere ein.
So lang ist der Tunnel der Fremde!
Wohin führt er mich?
Tränen rinnen aus den Augen,
aber er führt mich…
führt mich… führt mich.
Straße
Ich vergesse jene Straße nicht,
die uns eines Abends
zu einem mehrstündigen Spaziergang einlud.
Ich vergesse nicht,
wie ich, alleine auf dem Rückweg, bemerkte,
daß die Straße war wie wir beide:
An der Stelle deines Flüsterns
sproß eine Knospe hervor.
An der Stelle meines Seufzens
kämmte das Licht der Laternen
ganz leise die Haare des Regens.
An der Stelle deines Lachens
sprudelte eine helle Melodie.
An der Stelle, an der ich deine Hand nahm,
sah ich einen Efeu den Springbrunnen hochklettern.
An der Stelle, an der ich dich küßte,
sah ich, wie die Lippen aller Liebenden
zu einem Bienenschwarm wurden,
der am Bienenstock saugte
und unseren Kuß zum Honig
dieser Welt machte.
Ich vergesse nicht die Straße,
die uns eines Abends
für Stunden zu einem Spaziergang einlud.
Ich vergesse sie nicht!
Wie könnte ich?
Pfirsich
Da meine Augen nur zwei schwarze Pflaumen waren,
als du nach ihnen verlangtest,
schenkte ich dir eine davon
und behielt die andere für mich.
Oh, Mädchen!
Aber Herz hab ich nur eins,
nur einen Pfirsich.
Weißt du es nicht?,